Die Lammzeit ist nun endgültig vorüber, die Lämmer haben schon ihre ersten Gesundheits-checks hinter sich, bei den Müttern gab es die ein oder andere, die ein bisschen Hilfe brauchte, weil das Immunsystem nach der Lämmerei manchmal einfach sagt: „puh! – anstrengend!!“ Die „Lämmchen“, die zuerst geboren wurden, sind schon richtige Klopper geworden, es ist bei dem einen Flaschenlamm geblieben und nur ein einziges Lamm haben wir verloren. Mit dem verlammten Lamm zusammen macht das eins komma null sechs Prozent Verlust aus, bei einem Ablammergebnis von hundertfünfundsechzig Prozent. Guter Schnitt. Sehr schön.
Wenn man auf die Herde schaut, finde ich es schon schwieriger, etwas zu schreiben. Jeder Schäfer kennt das Thema „Betriebsblindheit“ wohl auf seine eigene Weise. Was mir momentan ins Auge springt, sind die Mamas, die unermüdlich alles geben, die unentwegt Milch produzieren und an ihre Nachkommen alles an Energie weitergeben, was der kleine Schafkörper aus dem Futter herausziehen kann. Dementsprechend abgesogen sind Schafmütter in den ersten zwei Monaten nach der Geburt. Sonst so moppelige Schafe fallen etwas in
der Kondition ab, die Rücken werden knochiger und wenn man von oben auf das Schaf schaut, hat man den dringenden Eindruck, dass es doch viel schmäler geworden ist. Da werde ich immer nervös. Und fange an, nach gehaltvollen Dingen zu suchen, die schafköstlich sind. Zum Glück kommen jetzt gerade langsam die Weiden und wir haben mit vorsichtigem, auf wenige Stunden begrenztem Anweiden begonnen. Denn auch wenn das frische, eiweißreiche Futter extrem gut für die Muttertiere ist, haben sie doch den ganzen Winter über getrocknetes, sozusagen konserviertes Futter genossen, woran sich ihr Magen, also auf schäfisch: der Pansen und die nachfolgenden Mägen, namentlich Netz-, Blätter- und Labmagen, gewöhnt haben. Änderung in der Futterzusammensetzung sollte man bei einem so sensiblen System nur ganz vorsichtig vornehmen, denn sonst gibts fiese Durchfälle. Also gibts vorerst nur ein bisschen frische Wiese und noch reichlich Heu im Stall. Erfahrungsgemäß dauert dieser nervöse Zustand noch bis zur Schur, denn auch wenn die Mütter dann in Folge mehr frische Wiese bekommen und das Futter sehr gehaltvoll ist, ziehen die Lämmer Energie. Frisch geschoren sieht man nun das ganze Ausmaß der Mutterfreuden. Das pummelige Schäfchen ist zum schlanken Reh geworden. Jaja, was die dicke Wolle alles verbirgt….
Aber wenn ich über das Gro der Herde schaue, sehe ich viele aufmerksam wackelnde Ohren und wachsame Augen, Die Schafmütter hetzen zwischen Wiese, Raufe und Nachwuchs hin und her (woher kommt einem als Mutter dieser Zustand nur so bekannt vor?), schauen immer bei den Kleinen nach dem Rechten, liefern beste, gehaltvolle Milch und versuchen, zwischendrin ein Hälmchen für sich selbst zu ergattern. Und der Nachwuchs wächst den Mähdels über die wackelnden Ohren.
Alle Ablamm-, Aufzucht- und Zunahmeraten sind doch irgendwie pupegal. Naja, nicht ganz. Natürlich sind „gute Zahlen“ auch ein Barometer für den Zustand der Herde, denn nur gesunde Tiere können auch leistungsfähig sein, wie es immer so schön heißt. Aber man sieht es doch auch so! Man sieht die Wackelohren oder Hängeohren, man sieht doch den schaftypischen aufmerksamen, wachsamen und manchmal etwas kecken Blick – oder wo er gerade fehlt, man kennt doch das Gewusel in seinem Stall und weiß, wann die Bewegungsmuster der Pappnasen sich irgendwie komisch anfühlen. Und wenn man sich einen Moment Zeit nimmt, nimmt man wahr, wie liebevoll sich manche Schafmutter um ihre Lämmer kümmert, beide zusammenruft, wenn es Zwillinge sind, damit gleichzeitig gesäugt werden kann und beide etwas und genug abbekommen, wie sie ihren Lämmern beibringt, nicht an den Stromzaun zu tapern, wie sie ihnen leckere Weidepflanzen zeigt und welche, die nicht so leicht verdaulich
sind, wie sie sie vor anderen Streitschafen beschützt und bei den Dösepausen immer eng an die Lämmer gekuschelt liegt, um sie zu wärmen, ihnen einfach Nähe zu schenken oder auch selbst mal genüsslich Wange an Wange mit dem Lamm schnarcht. Niedlich ist auch, wenn man auf der Weide die Schlafplätze findet: eine große Kuhle, wo die Mutter lag, dicht bei eine kleinere in exakt der selben Form, bei der großen Kuhle große Köttel, bei der kleinen Kuhle kleine Köttel….
Ich bin immer sehr beeindruckt von dieser Freigiebigkeit der Tiere. Das Leben ist halt so. Man gibt halt, was man kann, man tut das Beste, was man kann und notfalls tut man das solange, bis man einfach umfällt. Ja, es gibt auch mal eine Schafmutter, die ihr Lamm an mich „abtritt“ – dieses Jahr hatte Merida mir ihr zweites Lamm „geschenkt“. Unser Hasenzähnchen, das Flaschenlamm. Er heißt so, weil er eine Zeichnung im Gesicht hat, als hätte er zwei lange hasenartige Zähne unter der Nase. Seinen Bruder aber hat Merida allein dick und rund gemacht. Und ist selbst mittlerweile nur noch ein Knochenhaufen. Nach der Schur wird es besser. Die Bocklämmer werden abgesetzt und für die Mütter kommt damit die erste Erleichterung. Dann fressen sie mehr, wenn sie geschoren sind und die Lämmer ernähren sich ja auch zunehmend selbst von der Weide. Gegen Sommer werden sie wieder rund und hübsch sein, die Damen. Und dennoch hält sie nichts davon ab, jedes Jahr wieder „Vollgas“ zu geben. Als Schäfer kann man da nur mit ebensolchem Vollgas hinterher sein und nach allen Regeln der Kunst Schafe pflegen, hätscheln und peppeln, damit wir als Herde mit Hirtin insgesamt gute Arbeit machen.
Und ja, es kommt Lammfleisch dabei heraus. Manchmal überkommt es mich und ich stehe inmitten des Stalls, betrachte die witzigen kleinen Bocklämmer, wie sie das erwachsene Bockverhalten ausprobieren und weiß, wo das enden wird. Ist es grausam? Ist es komisch? Ich weiß es nicht.
Irgendwie schon. Es sind ja „meine Lämmchen“! Aber irgendwie auch nicht. Denn es sind gar nicht meine Lämmchen. Sie gehören ihren Schafmüttern und das einzige, was irgendwie „mir gehören“ könnte, ist die Herde, also etwas übergeordnetes, nicht das einzelne Lämmchen. Und ich kann nur das Beste für die Herde tun, wenn ich den Tierindividuen zuhöre. Irgendwann gegen Sommer schauen mich die Schafmütter immer an und fragen, wann denn diese nervigen Böcke endlich mal rausgenommen werden. Und dann weiß ich, dass es Zeit ist, die Bocklämmer zu trennen. Schafe leben nach anderen Kriterien als wir Menschen und in der Natur werden junge männliche Tiere irgendwann einfach aus der Herde, dem Rudel, der Rotte vertrieben. Geh deinen eigenen Weg, sagen sie dann.
Was wäre denn die Alternative, frage ich mich beim Betrachten der Lämmchen oft. Soja-Presswurst aus der Industrie? Das geht für mich auch nicht. Lateinamerikanische Kleinbauern sitzen im Knast, weil sie dagegen protestiert haben, dass ihnen und ihren Familien das Land von europäischen oder amerikanischen Konzernen weggenommen wurde. Die Konzerne stehlen das Land, vertreiben die Bauern und sorgen für riesige Erträge von Soja, Palmöl oder sonstwas, was sich hier super als „veggie-life“, garantiert human, tierfreundlich, öko und nachhaltig vermarkten lässt. Damit auch kein armes Tier für unseren Genuss sterben muss. Die Sojapresswurst kommt im „wie-Fleischwurst“ Gewand daher, bereichert eine ganze Lebensmittelindustrie und der Konsument fühlt sich „besser“ und mitfühlender und liebevoller als der ordinäre Flesichesser. Und die Kinder des lateinamerikanischen Bauern? Sitzen perspektivlos im städtischen Slum und haben ihr Leben verwirkt, weil sie nicht mehr bei ihrem Vater das Bewirtschaften des Landes lernen können, denn der sitzt ja in Haft. Und lateinamerikanische Gefängnisse sind nochmal was anderes als deutsche….. Irgendwie haben meine Bocklämmer es da sogar besser, als die Kinder des lateinamerikanischen Bauern…
Das Augenscheinliche ist manchmal nicht das wahrhaftige. Augenscheinlich ist ein veganer Lifestyle nett zu Tieren, aber was steckt dahinter und wo kommen die Produkte her? Augenscheinlich produziere ich Lammfleisch und bei mir werden Tiere geboren, die später dann getötet werden, aber in Wirklichkeit lebe ich mit meiner Herde zusammen. Es ist nicht einfach nur ein Job, eine Doktrin oder ein Ideal. Das merkt man daran, dass man zum Bespiel ständig in Gedanken bei den Tieren ist, dass man sogar abends vor dem Einschlafen noch darüber nachdenkt, welches Kraut man dem Durchfallschaf noch geben könnte und dass man notfalls auch nochmal im Schlafanzug zum Stall tapert, weil einem beim Einschlafen schlagartig eingefallen ist, dass man was ganz wichtiges vergessen hatte…
Meine Schafmütter wissen das. Sie wissen so viel mehr als ich. Und jedes Jahr geben sie mir mit „Vollgas“ ihre Geschenke, denn wenn ich meine wachsende Herde anschaue, die nicht nur Schlachttiere, sondern auch Zuchttiere (eine Herde die sich nicht verjüngt, stirbt irgendwann aus…) hervorbringt, dann kann ich nur ein „Beschenkt-sein“ fühlen. Und wenn ich nach der Lammzeit im Stall stehe und all das sehe und fühle und die kecken und witzigen Schafaugen die meinen treffen, dann steigt mir manchesmal ein Tränchen hoch. Hingabe, Liebe, Weisheit, Demut, all das machen die Tiere einfach so – und laden uns Menschen ein, uns an ihnen zu entwickeln.
Dafür bekommen alle großen und kleinen Schafe auch das Beste, was ich ihnen geben kann. Bestes Futter, hervorragende Pflege, Weiden auf denen sie sich wohl fühlen können, ohne von Wölfen attackiert zu werden (ich tue, was ich kann…) und Hilfe in allen Lebenslagen, egal ob Husten, quersitzender Pups, Durchfall, Pickel oder Schwergeburt. All das haben sie mehr als verdient, nicht aus einem sentimentalen Niedlichkeitsanfall, diesem „ach-wie-süß-das-arme-lämmchen“ und dem „ich-kann-keiner-fliege-was-zuleide-tun“, sondern aus dem Erkennen, zu welcher Hingabe diese Wesen fähig sind und welche Vielschichtigkeit ein jahrtausendealtes System namens Hirtentum hat. Es gibt eine französische Schreiberin, die es sehr treffend auf den Punkt gebracht hat, was ich ähnlich fühle. Mit diesem Zitat möchte ich für heute schließen:
„Meine treibende Kraft ist nicht das Mitgefühl – es ist der Respekt vor den Tieren.“ Jocelyne Porcher