Eine Geschichte aus der Lammzeit, die noch auf ihre Veröffentlichung wartete:
Immer wieder gibt es besondere Lämmer. Immer wieder auf unterschiedliche Arten. Diesmal gibt es Samuel.
Alle sind eigentlich auf ihre Art besonders und es gibt immer ein Grüppchen, was meine Aufmerksamkeit noch mehr besonders anzieht. Mal ist es ein kräftiges, schönes weibliches Lamm, bei dem man schon in den ersten Wochen sieht, was da mal draus werden kann. Mal ist es ein Bock, der schon immer der Draufgänger war und sich später in der Bockgruppe als Anführer herausstellt. Oder das arme Bocklamm, der schon immer „der Arsch“ war und der immer alles abkriegt. Alle haun drauf, aber er spielt tapfer weiter mit. In diesem Jahr habe ich auf einige Lämmer besonders gewartet. Banou durfte im Herbst nochmal zum Bock, nachdem sie ein Jahr pausiert hat, da sie sich im vorangegangenen Jahr nicht gut von der Laktation erholt hatte und relativ dünn geblieben ist. Da sie eine meiner ersten Schafe ist, mag ich sie nicht weggeben. Sie wird demnächst wohl das Gandenbrot erhalten. Nun war es klar, dass es vielleicht ihre letzten Lämmer sein werden, sie ist schon 7 Jahre alt und hat schon etliche Lämmer gemacht. Banou hat immer Zwillinge geboren und sich absolut selbständig um alles gekümmert: Geburt, Lämmerbetüddelung, Säugen. Perfekt, alles toll, ich hatte nie was damit zu tun. Sie hat eine besondere Art, ihre Lämmer zu erziehen. Sie steht auf, ruft kurz, ihre eben noch schlafenden Lämmer springen auf, schütteln sich, düsen ans Euter und sie erlaubt zwei winzige Schlückchen und geht dann ein paar Schritte nach vorn. Ihre verdutzten Lämmer schaun ihr nach, sie dreht sich um ruft nochmal kurz meckernd, diesmal ein klein wenig länger und ihre Lämmer sprinten an ihre Seite. Dann laufen sie zusammen und danach bleibt sie irgendwo gemütlich stehen, käut und lässt die Lämmer ausgiebig trinken. Das alles macht sie so selbstbewusst, wohl wissend, dass sie mit ihrem Euter das beste Lockmittel für Lämmer hat. Alle fremden Lämmer werden gnadenlos weggeboxt, sobald sie in den unsichtbaren Schutzkreis um ihre kleine Familie auch nur eine Nase stecken. Ich habe Banou niemals verzweifelt nach ihren Lämmern rufen hören oder wild durch den Stall rennen sehen, ihre Lämmer suchend. Sie hat immer alles im Griff. Also wartete ich diemal auf ihre Geburt, ob sie mir wohl noch ein weibliches Lamm bescheren würde. Und so war es auch. Aber diesmal waren es Drillinge. Zwei Böckchen, gescheckt und weiß und die gescheckte kleine freche Dame. Da sie als Mädchen etwas schlechtere Karten gegen ihre Brüder hatte, habe ich Banou das Milchmachen für das dritte Lamm abgenommen und füttere die kleine mit der Flasche zu. Banou war erst etwas irritiert, aber nach einiger Überlegungszeit sah ich ihr an, dass sie ganz froh war, nur die beiden Rabauken füttern zu müssen. Dennoch hat sie jetzt schon ziemlich abgenommen. Aber manches Mal zu nächtlicher Stallzeit lag sie mit halb geschlossenen Augen käuend im Stroh und schien mich anzulächeln, während sie mich beobachtet hat, wie ich ihrer Tochter noch eine Nachtmahlzeit bringe. Die Kleine scheint das Selbstbewusstin ihrer Mutter zu haben, denn es wurden auch schon andere Flaschenlämmer so gnadenlos weggeboxt wie ihre Mutter es tut. Her mit der Flasche – bams! – volle Schädel-Breitseite in die Flanke des Flaschennebenbuhlers! Sie hatte zwar schon fast einen Liter, aber macht nix. Viel hilft viel.
Samu ist das ganze Gegenteil. Samuel ist einer der bedauernswerten Zwillinge, die von ihren Erstlingsmüttern verstoßen wurden, weil irgendwas nicht passt. Da hab ich schon die interessantesten Dinger mit Erstlingsmüttern erlebt, warum sie welches Lamm wie mögen oder auch nicht und was sich daraus noch ergibt. Smilla hatte sich einfach einen ausgesucht. Den ersten, den schönen, dicken. Als ich in den Stall kam und Smilla neben ihrem neugeborenen Ersten wachte, der ins Stroh eingerollt und fein säuberlich abgetrocknet war, stakste Samu durch den Stall, noch klebrig und mit Eihautfetzen behängt und suchte zwischen den ruhenden Schafen und Lämmern leise mähend nach etwas Mutterartigem. So trocken wie der Erste war, war die Geburt schon etwas länger her, so nass wie Samu war, noch nicht allzu lange her. Kurzes Fragezeichen auf dem Schäferinnengesicht und dann erstmal Mutter und Lämmer ab in die Box, wo ich während der Erstversorgung in Ruhe alles beobachten kann. Muddi mag ihr Lamm, schlabbert auch ein bisschen an Samu, beide unter das Schaf gestopft, Schwanzwackeln, nachgucken, Schmatzen ist hörbar, alles gut, Biestmilch ist drin. So. Und nun? Was ist jetzt mit dem Dummbeutel hier? Frage ich Smilla. Sie guckt mich an, als wüsste sie nicht, wovon ich rede. Ist auch deins. Sage ich und schiebe ihn Richtung Muddi. Sie stiert drauf, als käme irgendein ekeliger Käfer auf sie zugekrabbelt, zeigt aber ansonsten keinerlei Aggressionpotential. Hm. Geht ja noch. Hat vielleicht Chancen. Ich versuche, die Lämmer nochmals zum Trinken zu motivieren und bemerke, dass Samu ein paar Koordinationsschwierigkeiten hat. Er stolpert, wackelt, fällt hin – soweit für ein neugeborenes Lamm nicht allzu ungewöhnlich. Aber die Art, wie er umplumpst ist irgdendwie ungewöhnlich. Fällt auch noch auf den Rücken und rudert mit den dürren Beinchen und sieht leider tatsächlich wie ein Käfer aus. Er hat sichtlich Probleme, seine Beine zu sortieren und als er endlich nach überbordender Selbststapelung auf ausgeglichenen Vieren steht, sehe ich, dass sein rechter Fuß vorne irgendwie abgeknickt ist und er auf „platten Klauen“ läuft. Seine Ellenbogengelenke an der Brust stehen weiter außen als normal und er sieht o-beinig aus. Samuel ist ein bisschen verkrüppelt. Aber nur ein ganz bisschen.
Smilla hat das gewusst und ihn „aussortiert“. Der Bruder ist perfekt geformt, wohl gebaut und hat einen vorbildlichen Lämmerpopo. Für Samu hat es nicht ganz gereicht. Das sind oft Momente, an denen ich in innerliche Konflikte gerate. Alles hat seine Gründe und Smilla hat eben ein weniger überlebensfähiges Lamm geboren. Wäre sie ein „wildes“ Schaf, würde es Sinn machen, das schwache Lamm zu verlassen, um die Überlebenschancen mit dem gesunden Lamm zu erhöhen. Ein gesundes Lamm kann, wenn nötig, fliehen, muss nicht so intensiv betreut werden, weil es selbständig nach Futter sucht, die Mutter muss weniger Energie aufwenden, ein krankes Lamm zu führen, zu beschützen, zu säugen, etc. So wäre es ohne uns Menschen, aber wir haben einige Tiere nunmal domestiziert, wollen „Erträge“ und haben Verantwortung für ihr Wohlergehen zu übernehmen. Eigentlich handeln wir gegen Natur, wenn wir Kümmerlinge peppeln, aber andererseits sehen wir auch das Individuum und empfinden mit ihm. Was ist gerechtfertigt? Was ist sinnvoll? Was ist naturnah, wie wir uns artgerechte Tierhaltung im Allgemein vorstellen? Und vor allem: was wünschen wir uns eigentlich? Und was davon ist egoistisch gefärbt? Ich finde die Beantwortung dieser Fragen sehr schwer, vor allem, weil es kein „richtig“ und kein „falsch“ gibt. Auf der einen Seite gibt es logische Schlüsse, auf der anderen Seite Empfindungen, aber beides muss sich nicht gegenseitig ausschließen. Lämmer wie Samu führen mich immer tief in solche Gedanken und ich frage mich, welche Auswirkungen menschlichen Handlens an den Tieren ablesbar sind. Reicht es, wenn wir versuchen, so verantwortungsbewusst wie möglich zu handeln? Können wir die Auswirkungen unseres Tuns langfristig überhaupt abschätzen? Was macht es mit einer Herde, wenn wir „falsches“, weil sentimentales Mitgefühl walten lassen und daraus unser Handeln bestimmen? Andererseits haben wir uns das Ganze mit der Domestikation selbst eingebrockt und nun sind wir auch aufgefordert, nach bestem Wissen und Gewissen die Tiere zu verpflegen, zu schützen, gesund zu erhalten und für ihr Wohlergehen zu sorgen.
Aber zurück zu unserer Geschichte. Samu hat eben Glück, dass er ein domestiziertes Lamm ist und wurde ein bisschen gepäppelt. Seine kluge, aber nicht ganz schäferinnenfreundliche Mutter wurde sanft überredet, mir die Arbeit abzunehmen. Solche Mütter versuche ich stets, mit Respekt zu behandeln. Eigentlich machen sie ja alles richtig, aber ich versuche, sie zu überzeugen, mir ein wenig die Betreuungsarbeit zu erleichtern. Dazu kam noch, dass Smilla ja erstgebärend war, mehrfache Mütter wissen meist eh schon, wie der Hase läuft. Wahrscheinlich war Smilla auch von der zweiten nachfolgenden Geburt überrumpelt, wie das manchmal so ist bei Erstlingsmüttern und sie hatte es noch nicht im Griff, zwei Lämmer zu gebären und gleichzeitig zu betüddeln. Auch ein Schaf lernt dazu und kann manchmal nicht gleich alles. Als sie von den Geburtshormonen ein klein wenig runtergekommen war und gesehen hat, was das denn für ein komisches Lämmchen ist, wollte sie es erst recht nicht mehr haben. In den folgenden Tagen zeichnete sich ab, dass sie ihn nicht mehr annehmen würde, obwohl die erste Nacht und der erste Morgen eigentlich ganz gut waren. Nach drei Tagen stieß sie ihn immer stärker weg. Viele dieser verstoßenen Lämmer entwickeln aber so ihre Taktiken. Sie haben gelernt, wo die Quelle ist und huschen einfach schnell und heimlich von hinten ans Euter, wenn das Geschwisterchen ausgiebig trinken darf. Manche von ihnen müssen zusehen, sich nicht erwischen zu lassen. Samuel hatte das Glück, das seine Schafmama stillbegeistert ist und dennoch käut und ihr Euter vorschiebt, wenn er trinkt. aber nur heimlich von hinten. Riechen darf sie ihn nicht, denn sie kann ihn nicht riechen. Also passt er auf, dass er von Muddis Kopf fernbleibt und klaut sich seinen Lebenssaft. Dennoch bekommt er etwas „zugebuddelt“ denn so kann man ja nicht gemütlich satt werden. Anfangs war er skeptisch, hat aber recht schnell gelernt, dass diese Zweibeiner relativ ungefährlich sind und er dort ausgiebig warme Milch bekommt, solange wie er will und bis sein Bäuchlein rund ist. Streicheln ging anfangs auch nicht so gut, denn alles, was seinem Kopf näher kommt, will ihn ja boxen. So hat ers gelernt. Nach ein paar Mal aber merkte er, dass er sich Zuwendung holen kann. Und er genießt es. Muddi ist ihm mittlerweile pupegal.
Heute hat er seinen ersten Tag draußen verbracht. Smilla und ihre Lämmer durften die Box verlassen. Natürlich hat Smilla sich aufopfernd und irgendwie erstlings-bescheuert um ihren schönen gekümmert und Samu hat sich immer wieder ein bisschen Milch geklaut, und die Flasche bekommen. Er stakst wieder durch den Stall, mit seinem Plattfuß und seinen o-beinigen Lämmerläufen, aber mit rundem Bauch und ziemlich munter. Alles wird angeschaut und untersucht, wenn auch zaghaft, denn eigentlich ist er ein ganz sanfter. Leise nimmt er Kontakt zu den anderen auf – immer auf der Hut, nicht geboxt zu werden. Kommt ganz gut klar, hat keinen Ärger mit jemandem und wird auch nicht angepöbelt. Und zwischendurch wurde er ausgiebg geknuddelt von meiner kleinen Tochter. So sehr, dass es ihn in den Schlaf paralysiert hat.
Heute abend bin ich dem Kuscheln leider auch verfallen. Der Kleine, der nun in der großen Schafstallwelt allein klar kommen muss und sich selbst ein warmes Plätzchen sucht, ohne Kuschelmutti. Da musste ich eine Zeitlang mit im Stroh liegen, nachdem die Flasche leer, der Bauch voll und Samu ganz schläfrig war. Es gibt sie immer wieder, die verstoßenen Zwillinge und irgendwie ist es am besten, sie suchen sich jemanden in der Herde, meist andere Lämmer, mit denen zusammengeknäult gepennt wird und deren Anwesenheit den herdenhaften Schutz und die Wärme geben. Aber Samu durfte heute abend nach der Flasche mal kurz erzählt bekommen, wie tafer er doch ist und dabei ein wenig von der Schäferin im Stroh gewärmt werden. Wir lagen ganz nah und er schob sein Köpfchen in meine Arme, rollte sich ein, gähnte und schloss die Augen.
Tja. da hat man sich so mühsam „professionalisiert“ und wird von diesem o-beinigem, ganz bisschen verkrüppelten Lamm im Schlaf um den Finger gewickelt. Diese Lämmer schauen mich immer an, als wüssten sie genau, was hinter meiner Schädelplatte vor sich geht. Sie sind beides. Bedauernswerte verstoßenen Zwillinge und etwas besonderes, etwas starkes. Sie kämpfen sich durch, sie finden dennoch ihren Platz in der Herde und Mitleid ist oftmals das falsche Gefühl für sie, auch wenn es aus unserem menschlichen Standpunkt oft so herzelnd mitleidig „soo traurig“ ist für die armen Benachteiligten. Klar ist es gemein, wenn Muddi kein Bock hat, sich um die zu kümmern und manchesmal denke ich kopfschüttelnd, die Dame soll sich mal nicht so anstellen. Aber diese Lämmer finden auch ihren Weg. Alles findet seinen Weg. Nichts in der Natur ist sinnlos und eine Schafherde hat viel Raum, die unterschiedlichsten Schafpersönlichkeiten aufzunehmen und Teil ihrerselbst werden zu lassen. So „bockig“ Schafe manchmal sind, so entspannt und so tolerant sind sie oft mit den ganzen anderen. Es wird geknufft und gerammt, manchmal haben zwei den ganzen Tag zu tun, ihre Kebbeleien auszutragen, aber man geht sich halt auch wieder aus dem Weg. Zugegeben, das gilt nicht für erwachsene Böcke, wenn der Herbst anbricht, aber das ist ja nochmal ein anderes Thema….
Samuel stakst also tapfer durch den Stall und erkundet seine Herde. Er ist stark genug, dass er schon lange nicht mehr wie ein Käfer auf dem Rücken rudert und beginnt, sich zu holen, was er braucht. Als es Zeit für meinen Feierabend wurde, habe ich Samuel gesagt, dass ich nun aufstehe und er selbst sehen muss, wo es für heut nacht gemütlich wird. Er ist aufgestanden und losgestakst. Einfach so. Mit rundem Bauch. Hat Muddi links liegen lassen und ging mit wippenden Ohren auf Entdeckungstour. Tapferer kleiner Kerl. Und nur ein ganz bisschen verkrüppelt.