Wer in der letzten Zeit mitgelesen hat, hat von mir viele Gedanken zum „großen Ganzen“ gehört: Naturschutz, Weidewirtschaft, Schäferei – all diesen Worte über „die“ Dinge. Das, was meinen Alltag eben maßgeblich beeinflusst. Nicht, dass ich jeden Tag mit Frau Weidewirtschaft Kaffee tinken würde – aber die Umstände, die es mit sich bringt, in einer solchen Lebenswirklichkeit zu arbeiten (und zu leben), spüre ich doch konkret jeden Tag. Jeden Tag Wetter beobachten, Futter beurteilen, Schafgesundheit im Blick halten und vieles mehr. Aber das alles wird getragen von meiner Herde. Und das sind die Einzeltiere in ihrer Summe. Oder ihrem Zusammenhang. Und irgendwie auch dem Zusammanhang zwischen Einzeltier und Summe.
Zu jedem einzelnen Tier habe ich eine besondere Verbindung. Nicht im Sinne von außergewöhnlich oder mehr besonders als andere das hätten. Es ist vielmehr so gemeint, dass jede einzelne Beziehung zu den unterschiedlichen Individuen der Herde anders ist, einzigartig, nicht wiederholbar. Weil jedes Tier ein Individuum ist, mit ein wenig vermenschlichten Worten: eine eigene Persönlichkeit hat. So wie wir Menschen auch hat jedes Schaf, angefangen von den physiologischen Gegebenheiten bis hin zu den artgemäßen, aber doch individuellen Bedürfnissen sein ganz eigenes, individuelles Wesen.
Nuran ist eine Tochter von Nebla, der Urschäfin der Herde und Hüterin der Schafgesetze. Nebla und ihr unerschütterliches Vertrauen in mich sind durch nichts und niemand aus der Bahn zu werfen. Das ist die Ebene, auf der sich unsere Beziehung abspielt, während ich mit Nuran in einem ganz anderen Kontext stehe. Nuran hat über die Jahre immer mal wieder den Abstand gesucht, kam dennoch immer vertrauensvoll wieder, aber ihre eigentliche Aufgabe sah sie darin, immer besondere Töchter hervorzubringen. Egal, mit welchem Bock. Irgendwann wurde es zur obligatorischen Frage, was Nuran in dieser Lammzeit wieder außergwöhnliches erschaffen hatte. Ein Jahr, in dem sie nur Bocklämmer hatte, galt als „vertanes Jahr“. Aber da ein produktives Schaf für Bocklämmer als auch für Nachzucht sorgen kann, ist das ja alles „relativ“. Bei Nuran freute ich mich über die Produktionsrichtung „Herdenaufbau“ immer besonders. Mittlerweile haben sich schon Enkeltöchter von ihr in der Herde als gute Muttertiere eingeordnet. Urenkelinnen von Nebla also. Eine Schafherde hat manchmal eine stark matriachale Kraft…
Die Kraft in den Familien, den Linien, die da entstehen, während man einzelne Schafe behält und zu Muttertieren werden lässt, gründet sich doch immer auf den Persönlichkeiten – oder individuellen Eigenschaften – dieser Schafe. Besonders schöne Wolle, die man ernten kann, beständiges Hervorbringen von runden Lämmern, jede hat so ihre eigenen herausragenden Eigenschaften. Für die Überlebensmöglichkeit durch Fleischvermarktung sind runde Lämmer ein gewichtiges Kriterium für ein „gutes Muttertier“, genauso wie die eigentlichen Muttereigenschaften, die beschreiben, wie selbständig und verlässlich sich ein Schaf um ihre Lämmer kümmert, damit die Aufzucht der Lämmer einerseits schön natürlich bleibt, aber auch erfolgreich abläuft. Gleichzeitig ist auch ein Schaf, welches besonders gute weibliche Lämmer hervorbringt, die sich in ihrer weiteren Entwicklung zum Muttertier sehr solide behaupten, von ebensolchem Interesse, weil es für die Nachkommen in der Herde sorgt, mit denen man es als Schäfer schafft, sein eigenes Überleben und das der Herde durch Einkommen zu sichern. Genauso wie ein Schäfer mit seiner Herde lebt, lebt er von ihr, das heißt, es muss beständig neue Muttertiere geben, die Lämmer hervorbringen. Daraus besteht eine Herde im wesentlichen. Eine Herde, die sich nicht erneuert, stirbt irgendwann aus.
Manchmal ist es, als wolle solch ein Schaf mir sagen, dass es gerne seinen Teil beitragen möchte dazu, dass eine Herde besonders „schön“ wird – was auch immer das heißen mag. Oder dass das, was man gemeinsam erschafft, eine einzigartige und individuelle Kostbarkeit wird. Diese Herde eben, die nicht einfach durch eine andere zu ersetzen wäre. Denn dann wäre sie eben nicht genau diese Herde. Mit all ihren Einzeltieren.
Und so ist es eben mit Nuran und mir. Ich habe Nuran ausgesucht, als Muttertier in meiner Herde zu bleiben. Sie hat mir von Anfang an gut gefallen, weil sie so stattlich und stark erschein. Sie und ihre Schwester Lina waren besonders kräftige weibliche Lämmer dieses Jahrgangs. Nuran hatte dabei auch noch ein so „vernünftiges“ und leicht aristrokratisches Wesen, anders als Lina, die immer sehr forsch und wild war – aber dabei eben auch nervöser. Lina ist auch in der Herde geblieben, ihr „Job“ ist es geworden, immer auf die Herde aufzupassen und allen Bescheid zu sagen, wenn ein hundeartiges Tier oder die Frau Schäferin sichtbar werden. Bei Nuran aber war es ziemlich schnell klar, dass ich ihre Lämmer stärker beobachten würde. Ich weiß nicht, das ist manchmal so ein Gefühl… Also habe ich sie gut gepflegt und beobachtet, als Lamm wurde sie gut umsorgt, damit sie sich zu einem stattlichen Schaf entwickeln kann. Und sie partizipiert am Aufbau der Herde durch besonders ergebnisreiches „return on investments“: mit wenigen Mutterschafen habe ich hier angefangen und sie hat dafür gesort, dass es nun viele Mutterschafe gibt, die der Herde eine gehörige Produktivität verleihen im Vergleich zur Herdengröße zu Beginn des Hofes. Während andere Schafdamen in der Herde sozusagen zu „großindustriellen Unternehmerinnen“ geworden sind und immer riesige Bocklämmer gemacht haben, war Nuran sowas wie eine universitäre Brutstätte für Managerinnen und Führunskräfte. Und so kommt es, dass ziemlich viele Mutterschafe einen Namen haben, der mit „N“ beginnt. Das allerdings ist der einzige Nachteil des weit verzweigten Clans der Nuran-Töchter. Wenn ein weibliches Lamm nun einen Namen braucht, überlege ich schon langsam gequält, welcher schöne Name mit „N“ mir jetzt noch einfällt….
Mittlerweile steht sie im „Gnadenbrot“. Sie hat bestimmt mindestens 15 Lämmer in sechs Jahren hervorgebracht und war immer eine sehr selbständige und fürsorgliche Mutter. Die Töchter, die mir am engsten verbunden sind, sind Narde, Neda und Namura. Nasreen ist eine Enkelin von ihr und gehört zweifellos zu dieser Gruppe Schafe. Nuran ist jetzt acht jahre alt, die letzte Geburt hat sie ganz schön mitgenommen und zum ersten Mal musste ich ihr helfen, weil die Kräfte sie ein wenig verließen. Man sah ihr an, wie abgekämpft sie war und da wurde klar: nun ist es gut.
Da sie ein Milchschaf ist, welches sich vom alten Moor- und Heideboden ernähren muss, darf sie jetzt in Rente gehen. Für den Erhaltungsbedarf reichen die Bodenverhältnisse und sie wird jedenfalls zumindest schöne Wolle geben, was in der Natur eines Schafes liegt. Warum also soll sie nicht ein „Woll-Schaf“ sein und hier einen entspannten Lebensabend verbringen? Gandenbrot heißt bei mir also nicht nur, dass ein Schaf durchgefüttert wird, sondern versucht gleichzeitig sinnvolle Aternativen zum hohen Produktionsdruck zu schaffen. Gute Schafe, die allerdings nicht in der Hauptproduktionsrichtung „tauglich“ sind, können auch andere Aufgaben übernehmen und dadurch ein wirkungsvoller Teil der Herde sein. Das ist ein wenig Besonderheit einer Schafherde, so wie ich es handhabe, denn von Wollerzeugung leben heimische Schäfer schon sehr lange nicht mehr und können sich folglich solche Seniorinnen mit Nebentätigkeit nicht mehr leisten. Durch Nutzung heimischer Wolle könnte viel mehr Schafen eine solche Möglichkeit eröffnet werden, weiter in der Herde zu bleiben, wie es bei Nuran der Fall ist.
Für Nuran ist das alles selbstverständlich. Genauso wie man sich als Schaf anzustrengen hat, was Gutes mit seinem Schafleben zu machen – zum Beispiel gute Töchterschafe – genauso verbringt man einen entspannten Schaflebensabend in der Herde. Man wird sehen, wo das hingeht. Und zwischendurch macht man als Schaf noch ein bisschen Wolle. Dass mensch dabei über Produktivität redet, sehen die Schafe nicht so eng. Wolle wächst halt, Wolle nervt, ja, schneid ab – ja, mach Teppich draus. Findet Nuran okay. Könnten wir den Schafen doch gönnen, oder? Die Mähdels und ich arbeiten dran. Nuran hat eben viele dieser Mähdels hervorgebracht, mit denen ich gemeinsam weiter arbeiten kann. Und Wolle machen alle Mähdels sowieso.