Die Schäferin vom WeidenHof

Nebla und die Nebelschafe

über Lynni, Krüppelchen und das Zuhören

So still und leise, wie das nächtliche Bild aus dem Stall – etwas wackelig – so bedächtig lassen Schafe ihren Schäfer manchmal eintauchen in viel umfassendere Gedanken, als nur die der alltäglichen Arbeit. Allerdings müssen wir schon zuhören wollen, wenn die Tiere uns durch ihr Herdenleben etwas zeigen. Und oftmals geschieht das in der Lammzeit, der intensivsten Zeit im Leben mit Schafen.
In der vergangenen Woche kamen die letzten beiden Lämmer und damit das Ende der diesjährigen Lammzeit. Ich hatte nicht gedacht, dass es so aufregend werden würde, denn es waren weniger Mütter als im Jahr zuvor, also nicht so viel Arbeit für mich. Die Schafe waren ganz gut gepflegt, was in schäferisch heißt: Kotproben zeigten keinen besonderen Parasitenbefall, außer den üblichen Verdächtigen war nichts los, weil die messbaren Ergebnisse bei „nix drin“ lagen, Spurenelemente hatten sie gerade in Form von Boli, die den Schafen eingegeben werden und sich langsam im Pansen auflösen, wobei sie die Tiere dann dauerhaft mit lebensnotwendigen Dingen versorgen, die sie nicht aus dem Grundfutter, also dem Heu und der Heulage herausverdauen können. Die Wolle war üppig gewachsen, die Füße super, Verdauung perfekt. Die Damen hatten es gemütlich im Stall, ich war aufgrund der großen Lämmer und Schwergeburten im letzten Jahr ganz gut vorbereitet und in Übung und außerdem lag mein Hauptaugenmerk auf etwas gänzlich anderem. Ich war so gespannt, wie die neuen Lämmer sein würden, denn ich hatte den Gotland-Bock in die Herde gestellt, um Kreuzungstiere mit unterschiedlichen Wollqulitäten und -Farben hervorzubringen. Onni, der Bock hat seine Aufgabe gewissenhaft erledigt, denn der Ultraschall im Winter zeigte, dass alle Mähdels auch tragend waren. Jippieh. Das gibt bestimmt schöne Lämmer! Wie das nun so ist, besonders geduldig bin ich nicht, wenn ich mich auf etwas freue und von daher konnte ich mich ganz gut mit neuen Betriebsaufgaben ablenken. Blos nicht ständig an die Lämmer denken.

Eines schönen Sonntags gab es dann den Startschuss von Selma. Mittags kam unsere Auszubildende und fragte, ob ich nicht lieber mal gucken gehen wolle, ein Schaf sei „hinten ganz nass“. Ich drömelte gerade durch die Küche, beschäftigt mit der gewichtigen Frage, ob ich jetzt lieber Kaffee oder schwarzen Tee mache, hörte die Frage an mir vorbeirauschen und – WAS??? Alles klar – ich komme. Ab in die Arbeitsklamotten und raus. Es war ein sonniger, angenehmer Nachmittag und Selma nutzte die Bewegungsfreiheit des Auslaufes, um mit der Geburt gut voran zu kommen. Die Fruchtblase war durch das Pressen und die Lammbewegungen schon geplatzt, deswegen war das Schaf „hinten ganz nass“. Meist liegen dann die Teile des Lamms, die zuerst geboren werden schon im Geburtskanal oder guckten schon mal ein Stückchen raus. In den Wehenpausen steht das Schaf oft nochmal auf, weshalb das Lamm wieder ein Stückchen zurückrutscht. So war es dann auch, als ich kam. Das Lamm war nicht sichtbar, aber ich wusste, Füße oder Nase haben bestimmt schon ein, zweimal rausgeguckt. Selma war entspannt, sie ließ sich von meinem Ankommen nicht stressen und legte sich wieder zum Pressen hin. Ein wenig war es, als wollte sie sagen: „Ach! Gut, dass du kommst – kannst du mal ein bisschen ziehen? Das ist irgendwie ganz schön dick zum rausdrücken…“ „Klar, mache ich Selma. Warte, ich guck mal.“ Sie blieb entspannt liegen, als ich mich hinter sie kniete und bei der nächsten Wehe nach den Lämmerfüßen griff, um ein wenig Bewegung in die Sache zu bringen. Schwupps, erschien die Nase – wirklich ein bisschen dick, da hatte sie Recht – also holte ich vorsichtig den Lämmerkopf weiter vor. Sanft durch das Schaf geschoben, die Augenpartie ruschte langsam durch, wir beide zogen, drückten, schoben und ächzten ein bisschen und pladderadatsch! Da war er. Der dicke Moorschnucken-Gotland-Bock. Was für ein Lamm! Grundfarbe weiß und herrlichste Zeichnungen am Kopf und am Körper. Die Beine fast rehbraun und ein so zauberhaftes Gesicht. Selma und ich starrten beide vor Entzücken auf dieses hübsche Lamm. Alsbald fing Selma an, ihren Mutterpflichten nachzukommen, säuberte es, troknete es und grummelte ihr Muttergrummelmähen. Das Bocklamm lag entspannt in der Nachmitagssonne, verschnaufte die Geburtsanstrengung, sah aus als wolle es erstmal augiebig gähnen und sagen: „So – da bin ich und nun? Wo ist jetzt die Veranstaltung? Milch? Spiel, Spaß?“

gerade geboren in der Nachmittagssonne

Das war unser Startschuss. extrem entspannt, sonnig und voller Freude über eine gelungene Schafkreuzung. Selma war genauso freudig, denn sie konnte gar nicht von ihrem Lamm lassen. Das ist prinzipiell sowieso erwünscht – gute Muttereigenschaften heißt das in Fachsprache — aber Selma war wirklich etwas überfürsorglich. Sobald Luki (meine Tochter musste ihm einen Namen geben…) sich aufmachte, den Stall zu erkunden, lief eine panische Selma ihrem Lamm hinterher und schrie unentwegt, bis sie wieder bei ihm angekommen war. Helikopterschafmutter. Völlig außer Atem stand sie da – denn kleine Lämmer sind schneller, als vollgefressene Mütter nach der Trächtigkeit – und man sah ihr an, dass sie inständig hoffte, er möge blos nicht wieder losrennen. Leider weit gefehlt, Lämmer sind eben verspielt und neugierig. Und wieder hörte man Selmas panische Schreie: „Luuuuki!! Komm heeeher – wo willst du den schon wieder hiiiiihiiin???“

das erste hübsche Lamm

Direkt im Anschluss kamen ebenso entspannt und problemlos die Lämmer von Neda und Wilja. Alle vier schneeweiß. Drei Mädchen und ein Bock. Ich wollte ja sowieso die Herde aufstocken. Herzlich willkomen, die kleinen Damen! Wenn das so weitergeht, dann kann ich mich ja mal in die Hängematte legen, wenn was ist, ruft ihr an, ja?

Aber sowas darf man nie nie nie denken. Besonders nicht, wenn man Schafe hat und die sich zum Lammen anschicken.

Die nächsten. Reinweiß. Direkt nach der Geburt, noch ein bisschen verschmiert…. aber Mama Neda putzt….

Dieselbe Familie ein paar Tage später. Sichtlich entspannt.

Das alles in seinem Hergang der Reihe nach zu schildern, würde noch unzähligere Worte bedeuten und sagt meist auch nur den Menschen was, die selber mit Schafen arbeiten. Um das Ganze ein klein bisschen kürzer zu gestalten und zu dem Fazit meiner Geschichte hier zu kommen, nehme ich das Ergebnis ein wenig vorweg. Der vorangegangene trockene Sommer, der die Spurenelemente im Boden hielt, weil sie in der Trockenheit nicht gelöst werden konnten und über die Pflanzen durch den Verdauungstrakt in die Tierorganismen gelangen konnten, hat noch mehr seiner Spuren hinterlassen, als wir das bis jetzt über Futterknappheit und Ernteausfälle mitbekommen haben. Es ist ein Allgemeinzustand, der sich intensiv gezeigt hat. Ressourcen, lebenswichtige Nährstoffe, all das, was wir brauchen, um Pflanze, Tier und Mensch gut gedeihen zu lassen, sind knapp. Die Welt ist voller Bedürfnisse und das wenige, was wir in der überfüllten Welt zur Verfügung haben, verschmutzen wir auch noch. Alles Land ist bebaut und jeder Flecken Erde, auf dem etwas produziert wird, wird intensiv genutzt, weil es sonst nicht auskömmlich wäre. Eine Welt mit reichlich Platz und umherziehenden Herden gibt es nicht mehr. Oder jedenfalls nur stark zusammengeschrumpft oder punktuell-regional stark begrenzt. Aber angesichts der Welt- bedürfnisse reicht das nicht aus, um davon überleben zu können.

Alte Tierrassen, die regional angepasst sind und deswegen mit den Bedingungen gut klarkommen, zeichnen sich durch Genügsamkeit und Robustheit aus, wenngleich das nicht bedeutet, dass sie keine Pflege bräuchten. Bei guter Pflege allerdings merkt man, dass sie bei angepasster Leistung relativ wenig Futter u.ä. – also Ressourcen – verbrauchen. Die Lämmer bringen dann eben keine Mast-Höchstleistungen, sind dafür aber tausendmal schöner – wie hier bei der Moorschnucken-Mutter (eine alte, vom Aussterben bedrohte Rasse) mit ihren Gotlandlämmern, die auch zu den alten Landrassen gezählt werden.

„Trockene Jahre sind gute Schafjahre“ sagen Schäfer und meinen damit die Parasiten, die sich in Trockenheit nicht so gut vermehren und Schafe ärgern können. Und das stimmte auch irgendwie, denn meine ständige Kontrolle zeigte einen ziemlich gut akzeptabelen Zustand und nur geringe Notwendigkeiten von Entwurmungen. Ja, in der Hinsicht ein gutes Jahr und an der allgemeinen Knappheit hatte ich mit meiner alten Landschafrasse nicht so viel gelitten, wie andere. Und dennoch spürten wir den Zustand auf andere Weise. Ich kann es kaum wirklich greifbar formulieren, aber die Mähdels machten auf mich den Eindruck, als müssten wir alle uns abkämpfen, um mit der Produktionsmaschinerie noch Schritt zu halten. Vielleicht war das auch mein eigener Zustand, da das Führen, Halten und Weiterentwickeln eines landwirtschaftlichen Betriebes auch nicht gerade ein Sonntagsspaziergang ist – Hirte und Herde sind oftmals in denselben Stimmungen unterwegs. Und dennoch. Konkret spürbar war es zum Beispiel daran, dass Mutterschafe anfingen schlapp zu werden und ich merkte, das ist was ganz „subtiles“, also kein Fütterungsproblem, kein Magen – Verzeihung! Pansengrummeln, kein Durchfall oder keine anderen sichtbaren Krankheitsäußerungen. Es fehlte die Energie, es fehlten konkrete Bausteinchen in Form von Vitamin, Phosphor, Calcium, Kupfer…. Aber da ich kein wandelndes Chemielexikon bin – kein Mensch ist das – kann man sich nur an den Symptomen entlanghangeln. Hier die Temperatur messen, um einen Hinweis zu bekommen, vorsichtig ein Element ausprobieren, wieder mit der Tierärztin absprechen und reflektieren, weiterversuchen, immer so weiter. Und das alles überprüfen an Ohren, die einen Milimeter zu tief hängen, an Augenlidern, die hoch oder runter liegen, an der Farbnuance der Schleimhäute unter diesen Augenlidern, am Fressverhalten, der Häufigkeit der Kauschläge und dem Gefühl, welches sich dann ausbreitet, wenn man eine zeitlang inmitten der Herde steht. Dafür braucht es auch gewisse Erfahrungen. Das Gefühl, wie sich eine Herde in diesem oder jenem Fall anfühlt, den Vergleich zu diesem oder jenem Verhalten. Und soweiter. Doch auch mit all dem ist es nicht immer gesagt, dass man immer alles gleich richtig spürt und macht und nichts mehr schiefgehen kann. Jede Lammzeit ist anders und jede Lammzeit lässt uns andere Erfahrungen machen. Und das ist gut so. Damit wir wieder ein wenig demütiger werden und uns nicht aufspielen, als wären wir die Zauberlehrlinge, die meinen, sie hätten das Leben und Mutter Natur im Griff. Das ist etwas, das alle Menschen spüren, die in Naturzusammenhängen arbeiten und ganz besonders deutlich wird es immer bei denen, die dem Hirtentum am nächsten stehen, deren „Produktionswelt“ dem natürlichsten noch am nächsten steht und am wenigsten industriell ist. Es ist angesichts der verzwickten Gesamtlage der Landwirtschaft völlig unangemessen, Kollegen zu diffamieren, die auf eine andere Weise produzieren, die intensiver wirtschaften oder konventionelle Wege beschritten haben, denn wie bereits erwähnt, bleibt uns kaum eine andere Wahl, als nach effizienten Methoden zu suchen. Aber wir haben auch immer die Pflicht, zu prüfen, in welchem Rahmen wir uns gerade bewegen. Jeden Weg, den man beschreitet kann man gut oder weniger gut machen, das liegt am Menschen, der das tut. Ich möchte hier nur den Unterschied aufzeigen, den es bedeutet, wenn ich Tiere zum Beispiel in einem geschlossenen Stallsystem halte, wo ich viel mehr, wenn auch nicht gänzlichen Einfluss auf die einzelnen Parameter haben kann. Lichteinstellungen, Temperaturregulierung, gleichmäßiges Klima, streng kontrollierte Futtergaben, usw. All das brauchen wir, um den Gesamtbedarf zu produzieren, den die Welt – und leider auch unser verschwenderisches Luxusverhalten – momentan einfordert. Aber eine natürlichere Tierhaltung, sprich offene Ställe, Weidegang, Außenklima, ein Leben unter freiem Himmel,… ist viel weniger planbar und bestimmbar. Die Kunst des Arbeitens unter solchen Bedimgungen ist eben die, wie ich sie oben beschrieben habe. Auch hier muss ich ein sorgfältig geplantes „Management“ walten lassen, das zeigen die Tiere von solchen natürlichen Haltungsformen immer an ihrem Aussehen, ihrer Leistung und dem Gesundheitszustand der Herde im Vergleich und in Relation zu Einzeltieren.

Vielfalt in einem Stall mit „natürlicher Produktion“, mit diversen Rassen, mit an das Land angepasster Wirtschaftsweise. Klein, aber fein – auch hier gibt es moppelige Lämmer.

Wenn ich nun beobachte, was in meiner Herde los ist und gleichzeitig Kollegen so erzählen höre, dann habe ich das Gefühl, dass wir nicht nur auf der wirtschaftlichen Ebene immer härter kämpfen müssen, sondern auch immer klarer wird, dass wir noch nachhaltiger und sparsamer und vielfältiger denken müssen, um unsere Nahrungsmittelproduktion und gleichzeitig das Wohl und die Gesundheit unserer Tiere aufrecht zu erhalten. Jeder hat seine eigenen herden-typischen Themen und bei mir waren es diesmal eben diese subtilen Dinge, die mit viel Fingerspitzengefühl gelöst werden wollten. Es gab da zum Beispiel das Krüppelchen. Eines von vier Lammgeschwistern, die ihre Mutter schon zwei Wochen vor der Geburt schlapp machen ließen.

Narde und Krüppelchen

Krüppelchens Mutter Narde schwankte aufgrund der erheblichen Mehrlingsträchtigkeit zwischen diversen Mangelerscheinungen hin und her, denn so viele Lämmer gleichzeitig zu entwickeln, überfordert mitunter auch einen Schaforganismus, der es gewohnt ist, mehr als einen Nachkommen auf einmal zu gebären. Ich trug sie geradezu wie ein Porzellanschaf über diese schwierige Zeit. Zwischen Zusatzenergie und Calciumgaben, unter scharfer Beobachtung und mit derselben Anspanung wie das Schaf sie selbst hatte.

Alle vier Lämmer musste ich holen, sie hatte kaum die Kraft, eines ist uns in den folgenden drei Tagen noch weggestorben. Es blieb zum Glück das einzige Lamm, welches wir in der gesamten Lammzeit verloren haben. Die anderen beiden machten sich unter der Pflege ganz gut, aber Krüppelchen zeigte recht bald, dass doch etwas gehörig schief gelaufen war. Unter intensivster tierärztlicher Begleitung konnte ich Krüppelchen wieder im buchstäblichen Sinne auf die Beine helfen.

von Krüppelchens Schwester mussten wir uns leider verabschieden….

Es gibt Dinge, die darf man Schafen nicht einfach so geben, wie das Kupfer zum Beispiel. So etwas kann Schafe auch einfach umbringen. Aber manchmal sind genau diese Dinge im Mangel und man muss herausfinden, zu welcher Zeit und zu welcher exakt richtigen Dosierung man dann therapeutisch einschreitet. Dass das gut abgestimmten tieräztlichen Rat braucht, versteht sich von selbst. Und dann muss man weiter beobachten. Krüppelchen zog anfangs ihre Hinterläufe und die Hüfte hinter sich her und konnte popoabwärts nicht hochkommen. Unter den vorsichtigen Kupfergaben hatten die Nerven, Sehnen und die Muskulatur die Gelegenheit, sich außerhalb des Mutterleibs „nachzuentwickeln“ und heute steht unser Krüppelchen auf vier Beinen, wenn auch das rechte hintere immernoch zeigt, dass etwas nicht vollwertig „in Ordnung“ ist. Aber wir haben es bis hierhin geschafft. Und das freut uns. Und das Krüppelchen, was sich schon von Anfang an mit frohem Lebensmut durchgekämpft hatte. Es ist das einzige Lamm, was ich bis jetzt kenne, welches einen schwarzen Punkt auf der Zunge hat, der immer auf und abhüpft, wenn es frecht mäht. Mein Sohn wurde von ihrem kecken Blick sofort berührt. Er war es auch, der es liebevoll „Krüppelchen“ taufte. „Mama, darf ich Krüppelchen behalten?“ Da hat Mama sich eben ins Zeug gelegt und gehofft, dass Mutter Natur uns das Krüppelchen lassen würde. Sie wird nicht belegt werden dürfen – sprich keine Lämmer bekommen dürfen. Das wäre viel zu heikel. Aber wer weiß, wie ihre Wolle so sein wird…

Da waren die drei und Narde übern Berg. Krüppelchen (links) übte fleißig und lief schon fast vierbeinig.

Oder da war Lynni, die weniger mit den chemischen Bausteinchen zu kämpfen hatte, aber deren Wohlergehen ich durch genaueste Verhaltensstudien ihrer Mutter sichern musste. Als ich Lynni das erste Mal sah – und da wusste ich ja noch nicht, dass sie so heißen würde – stand sie verzweifelt und nass im Stall herum, war ein gerade geborenes Häuflein Lamm und wuselte mit drei anderen Lämmern um zwei Mütter herum und versuchte den Lebensinhalt eines Lammes – das Milchtrinken – auszuüben. Aber da die eine Mutter stoisch herumstand und ziemlich platt schien von ihrer ersten erfolgreichen Geburtserfahrung und die andere, alte und erfahrene Muter aufgeregt Lämmer sortierte und in ihrem Mutterrausch immer wieder alle Lämmer haben wollte, obwohl doch nicht alle aus ihr gekommen waren. Das war alles eindeutig zu viel und die beiden Mütter und die vier Lämmer sahen mich fragend an, ob ich nicht mal Ordnung in das Familienchaos bringen könnte.

Die alte Wanja mit dreien
Lovis wollte wenn überhaupt nur eins…

Sie hatten gelammt, kurz bevor ich in den Stall gekommen war. Ich hatte beim nachhause gehen noch überlegt, wieviel ich schlafen könne, denn ich sah erste Geburtsanzeichen, aber noch lange nicht eindeutige Austreibungsbestrebungen. Also stellte ich mir den Wecker für einen kurzen Kurzschlaf und kam im Dunkeln wieder in den Stall. Einen winzigen Moment zu spät, um zu sehen, welches Lamm da aus welcher Mutter gekrabbelt kam. Also beide Mütter und alle Lämmer in eine große Box und Schaf- und Lammverhalten studieren. Die Situation begann, sich zu beruhigen. Allerdings kann ich auch nicht genau sagen, wie man das nun beurteilt, wem man wem zuordnet. Wie geht die Mutter mit den einzelnen Lämmern um, was sind die kleinen Anzeichen für eine größere oder kleinere Präferenz, wo liegt ein Hauch Abneigung?

Immer wieder gab es Kuddelmuddel, weder Lamm noch Mutter konnte sich entscheiden, selbst die Sichtschutzdecke half nicht viel….

Im Geburtsrausch wollen alle nur, dass alles überlebt und Mütter lassen unter manchen Umständen auch fremde Lämmer dran, aber diese erste Prägungsphase klingt sehr bald ab und dann sind sie gnadenlos fremden Lämmern gegenüber. wenn man nun Pech hat und falsch geprägt wurde, sind die Chancen für eine weitere gute Beziehung schlecht. Also muss man möglichst bald herausfinden, wie die Dinge liegen. Nach drei Tagen hatte sich die Sache geklärt. Die beiden Lämmer der älteren Mutter waren ein Doppelpack und es wurde klar, dass die junge Mutter nur eines ihrer beiden Lämmer akzeptieren wollte und das andere aber nicht ernsthaft angriff. Also hat dieses Lamm einfach die Flasche zusätzlich bekommen und gleichzeitig gelernt, Milch zu stibitzen, während ihre Schwester gemütlich bei Mutti trinken darf. So machen wir es bis heute und das Lamm, welches mein Sohn dann Lynni nennen sollte, ist heute ein kleiner kuscheliger Dickmops. Die Geschichte hätte aber auch sonstwie ausgehen können, denn jedes Schaf, jedes Lamm ist einzigartig, außer bestimmten Hinweisen, denen man folgt, gibt es keine Rezepte und allein gültige Handlungsanweisungen.

Endlich Ordnung. Zaghafte Annäherung der Lovis-Familie….

… und eine sichtlich entspannte Wanja. Sie hatte doch nur zwei gezählt bei der Geburt!

Es wäre unangemessen, nicht die vielen schönen Lämmer zu erwähnen, die einfach und problemlos in diese Welt gestartet sind und in ihren Kreuzungserscheinungen immer individuell zauberhaft sind. Von weiß lockig über dezent akzentuiert und gemustert bis hin zu dunkel Grau oder deifarbig gezeichnet oder auch Schwarz ist Verschiedenes dabei. Wieder freue ich mich im Voraus: auf die Wolle, die ich von denen „ernten“ werde, die als Mutterschafe in meiner Herde bleiben werden.

schön gezeichnete Lämmer, die sich im Laufe ihrer Entwicklung sogar farblich verändern…
…. es ist eine Freude, das zu beobachten
Die Drillinge von Namura, die zum ersten Mal gelammt hat und gleich begeisterte Mutter ist, ohne den leisesten Zweifel….

Das Lamm von Edda, ein Mädchen und später dann einmal Mutterschaf…..

Sonja und noch ein neues Mutterschaf…

und Smilla hat auch zur Herdenerweiterung beigetragen…

Frida und ihre Töchter

Dennoch hinterlässt diese Lammzeit mich auf eine ganz merkwürdige Art sehr nachdenklich. Wo geht es hin mit unseren Tieren und uns? Was geschieht mit unseren Schäfern und den Hirten weltweit? Was wird mit unseren kleinen Tieren, die genügsame Graslandumwandler sind und uns auf ihre stille Art nun schon seit Jahrtausenden begleiten? Und wie schnell werden industrielle Agrarstrukturen sich in diese rauhe und einfache Welt hineinfressen, die gerade durch ihre bodenständige und direkte Art als so liebenswürdig und ehrlich empfunden wird? Schäfer brauchen bei ihren Schafen keine Eitelkeiten. Wie man aussieht, ist nach einer Woche Lammzeit sowieso egal. Die Schafe stört es nicht, ob der Dreck unter den Fingernägeln noch weggeht, die Haare einem zerzaust zu Berge stehen, die Arbeitshose vor Dreck starrt, weil das Ergebnis dreier Schwergeburten daraufgelaufen war, man tiefe Schlafmangelringe unter den Augen hat, grau im Gesicht ist oder wieder in seinen Klamotten geschlafen hat und langsam mal duschen müsste, ist wurscht. Die Schafe interessiert es wirklich nicht.

also, doch so langsam könntest du dich mal umziehen – ich helf mal….

Die wollen herausfordern, wie sehr du dich einfühlen kannst in die subtilen Vorgänge in der Natur, wie sehr du bereit bist, deine ideologisch sorgfältig zusammengestellten Scheuklappen abzusetzen und zu sehen, was von alleine geschieht, während du etwas anders geplant hast und wie besonnen und dennoch höchst konzentriert du darauf reagieren kannst.

Jedesmal tut es irgendwie gut, auch wenn es anstrengend ist. Zu erleben, dass unsere Meinung zu etwas nicht der Weisheit letzter Schluss ist und wir weiterhin achtsam bleiben müssen. Ich habe auch keine Patentlösung für nichts und ich weiß noch nicht einmal genau das Thema zu sagen. Aber ich habe aus dem Erlebten heraus das unbedingte Gefühl, dass wir gemeinsam sehen müssen, wie wir uns eine Form des Lebens, Wirtschaftens und Fühlens erarbeiten und bewahren müssen, um es mit dem, was uns zur Verfügung steht so zu handhaben, das wir mehr zurückgeben wollen, als dass wir nehmen könnten. Das Leben verschenkt und versprüht sich und erfüllt uns mit der Freude des Genusses. Aber es versorgt uns nicht endlos, als wären wir verwöhnte Kinder, es braucht ebenso den ehrlichen, respektvollen Umgang eines Erwachsenen, der in liebevoller Zugewandtheit für alle die sorgen möchte, die ihm von Mutter Natur anvertraut worden sind.

nachts im Stall: schlaft wohl behütet, meine kleinen Schafe….

tagsüber auf der Weide: bekommen sie alles, was sie brauchen, um kräftige, gesunde Schafe zu werden.

Wenn ich diese Bilder betrachte und überlege, welches von den unzähligen ich für den Artikel auswählen soll, dann merke ich immer wieder, dass der Weg einer nachhaltigeren Produktion, trotz geringeren Erträgen, zumindest in die richtige Richtung weist. Trotz Dürresommer und Klimakatastrophen haben wir mit einer guten Ablammquote und vielen dicken und kräftigen Lämmern und nur „Einzelschicksalen“ wie Narde oder die etwas dünneren von Berit und Jarla zu tun gehabt. Weidewirtschaft, alte Rassen, ressourcenschonendes Arbeiten und viel Fingerspitzengefühl beim alltäglichen Tun – es gibt Möglichleiten und Wege, zukunftsfähiger zu wirtschaften und dabei wertvolle Nahrungsmittel zu erzeugen. Und gleichzeitig ist unser Alltag eben bestimmt von einem lebendigen Verdundensein in Freud und Leid. Schafe können noch viel mehr, als das „Rasenmähen“, was ihnen manchmal nachgesagt wird. Weidewirtschaft bedeutet so viel mehr, als nur ein paar Tiere auf der Wiese zu halten. Wenn man mit seinem ganzen Herzen bei der Sache ist und gewissenhaft arbeitet, zeigt sich mit Schafen oft, dass die „Katastrophen“ zwar auch ungeahnte, aber dennoch insgesamt viel mildere Auswirkungen haben, anders als bei einem hochspezialisiertem Stall, der ein ganz anderes Maß an „Input“ braucht. Und dennoch zeigt sich bei unseren „robusten“, natürlichen Tierhaltungen, dass die Auswirkungen unseres Handels weltweit niemanden verschonen. Zeit also, auf das zu besinnen, was wir wirklich wollen und zu entscheiden, ob Überfluss-Produktion, Starrsinnigkeit und Verschwendung unsere Leitlinien sein sollen. Oder ob wir uns lieber an Achtsamkeit, Genügsamkeit, wohlüberlegtem Handeln und Eingebundensein in harmonischen Wirtschaftskreisläufen orientieren wollen.

Den Tieren zuhören und sich mit ihnen gemeinsam auf den Weg machen. Niemand könnte uns besser zeigen, welche Tierhaltung die sinnvollste ist, außer die Tiere selbst.


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1 Kommentar

  1. Tina 17. November 2019

    Eine Liebeserklärung an Deine Schafe und Deinen Beruf
    Ich habe mit Schafen nichts zu tun, bin in der Pferdeecke zuhause und nur zufällig auf dieser Seite gelandet. Der Titel „Über … und das Zuhören“ klang spannend, denn darüber hab ich in den letzten Jahren auch viel gelernt. Z.B., dass zum Zuhören auch Hinspüren gehört, um, wie Du es so toll beschreibst, die feinen Nuancen, die leisesten Zeichen, wahrzunehmen, damit aus dem Subtilen eine Notwendigkeit erkennbar wird, nach der man dann Handeln kann. Von meinem kranken Pferd und seiner kleinen Herde habe ich das auch lernen dürfen. Eine im wahrsten Sinne sinnliche und vollkommene Erfahrung. Danke für die treffenden Worte!

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